Deshalb ist eine gezielte Befragung, weiterführende Abklärung und Diagnostik von möglichen psychiatrischen/psychosomatischen Begleiterkrankungen erforderlich, vor allem bei
Angst- und depressiven Störungen
AD(H)S
Persönlichkeitsstörungen
psychotischen Symptomen
Amnestischem Syndrom
Suizidalität
Ferner ist die Familienanamnese bezüglich psychischer Störungen wie Substanzabhängigkeiten (insb. Verwandtschaft 1. Grades) zu berücksichtigen
Da diese Störungen sich vor, während oder nach einem chronischen Alkoholkonsum manifestieren können und eine Unterscheidung zwischen substanzinduzierter Störung und substanzunabhängiger Folge- bzw. Begleiterkrankung häufig schwierig ist, ist die Untersuchung der Patientin oder des Patienten auch zu Zeiten anzustreben, in denen kein Alkohol konsumiert wird, bzw. das Entzugssyndrom abgeklungen ist
Wünschenswert ist deshalb eine Überprüfung der anfänglichen Diagnostik nach 3- bis 6- wöchiger Substanzabstinenz
Auch im Hinblick auf eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung ist eine genaue Diagnose komorbider psychischer Störungen von Bedeutung, da die Suchtmittelabhängigkeit nach Bundesgerichtsurteil 2019 wie andere psychische Störungen betrachtet wird und sich mit IV-rechtlicher Relevanz auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt (Bundesgerichtsurteil vom 11. Juli 2019 (9C_724/2018)
Bei Komorbidität von psychischen Störungen und Alkoholabhängigkeit empfiehlt sich immer eine frühzeitige integrierte Behandlung und Vernetzung mit Psychiatern, Suchtfachstellen, psychosozialer Versorgung und sozialem Umfeld der Betroffenen
Am besten geeignet sind parallele Behandlungen der Alkoholabhängigkeit und der komorbiden psychischen Störungen; nicht selten erfolgt die Behandlung jedoch sequentiell (erst die Suchtbehandlung, dann die komorbide Störung oder umgekehrt), was jedoch häufig zu Rückschlägen beiträgt, wenn die weniger gebesserte Störung sich negativ auf die ersten positiven Effekte der anderen Störung auswirkt
Der Grundversorger findet im Folgenden Erläuterungen über häufige komorbide Störungen; bei Unklarheiten empfiehlt sich eine gezielte Abklärung, wie sie in den psychiatrischen Ambulatorien oder bei Suchtmedizinern angeboten wird
Depressionen / Angststörungen und Alkoholabhängigkeit
Affektive Störungen und Alkoholkonsum beeinflussen sich wechselseitig negativ; spezifische Ängste, z.B. Agoraphobien oder soziale Phobien, sind häufig Auslöser für einen erhöhten Alkoholkonsum (Alkohol als „Problemlöser“)
Bei komorbider affektiver Störung sollte immer eine psychotherapeutische Begleitung in Erwägung gezogen werden; dabei haben sich kognitiv verhaltenstherapeutische Verfahren zur Verbesserung der depressiven Symptomatik und zur Trinkmengenreduktion bzw. Aufrechterhaltung der Abstinenz bewährt
Eine alleinige antidepressive Medikation ist als Monotherapie zur Verbesserung der Abhängigkeit (z.B. Trinkmengenreduktion, Abstinenzerhalt) nicht geeignet
Für die Behandlung der Komorbidität von affektiver Störung und Alkoholabhängigkeit ist eine Kombination aus Pharmakotherapie (z.B. SSRI, trizyklische Antidepressiva). Psychotherapie und suchtspezifischer Therapie (z.B. psychosoziale Therapie, Rückfallprävention, Anti-Craving Medikamente, z.B. Naltrexon) empfehlenswert (z.B. integrierte medizinische, suchttherapeutische und psychosoziale Behandlung)
Schizophrenie / Psychosen und Alkoholabhängigkeit
Die Komorbidität von Psychosen und Alkoholkonsumstörungen ist häufig; beide Störungen beeinflussen sich gegenseitig negativ
Es sollte eine leitliniengerechte / psychosoziale Behandlung für beide Störungen angeboten werden
Am besten geeignet sind Kombinationsbehandlungen aus Motivierender Gesprächsführung, Kognitiver Verhaltenstherapie, psychosozialer Therapie und Medikation mit Antipsychotika (z.B. atypische Antipsychotika, welche sowohl zur Reduktion von Trinkmengen und Craving beitragen können)
Bipolare Störungen und Alkoholabhängigkeit
Betroffene mit Bipolar-I-Störung (mind. 1 Episode von Manie und Depression) zeigen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 3 Mal so häufig eine Alkoholkonsumstörung, da sich beide Störungen ungünstig beeinflussen (häufigere Re-Hospitalisationen, „rapid cycling“, geringere Compliance, häufiger suizidale Krisen, etc.)
Problem bei der Behandlung der Komorbidität von Bipolarer Störung und Alkoholabhängigkeit ist der geringe Anteil der Patientinnen oder Patienten, der in der Behandlung verbleibt (meist unter 50%)
Die medikamentöse Behandlung der bipolaren Störung, z.B. mittels Lithium, steht im Vordergrund der Behandlung; ergänzend können suchttherapeutische Verfahren und Valproat zur Stabilisierung und Trinkmengenreduktion versucht werden
Die ADHS besteht seit der Kindheit und ist mit einer erhöhten Lebenszeitprävalenz für Alkohol und andere Suchtmittel verbunden
In 50 – 80% persistieren die ADHS Symptome zumindest teilweise bis ins Erwachsenenalter und beeinflussen das Alkoholkonsumverhalten ungünstig (z.B. durch Symptome von chronischer innerer Unruhe, extreme Stimmungsschwankungen, erhöhte Ablenkbarkeit, Symptome der Reizüberflutung und Impulsivität sowie Mühe, den Alltag zu strukturieren und Aufgaben in angemessenen Zeiten zu erfüllen)
Bei Vorliegen einer komorbiden ADHS und einer Alkoholabhängigkeit sollte unbedingt eine Zusammenarbeit zwischen Grundversorgung, Psychiatrie, Suchtberatung und psychosozialen Stellen erfolgen
Die pharmakologische Behandlung der ADHS hat keinen direkten Einfluss auf das Suchtverhalten; zwar kann bei einer adäquaten Behandlung der ADHS von einem positiven Effekt auf das Gesamtbefinden ausgegangen werden, dies trägt aber – wenn überhaupt – nur indirekt zur Reduktion des Konsumverhaltens bei
Für die medikamentöse Behandlung der Komorbidität von ADHS und Alkoholabhängigkeit sollten in ADHS spezialisierte Ärztinnen oder Ärzte beigezogen werden; grundsätzlich ist eine pharmakologische Behandlung mit Stimulanzien und Atomoxetin zugelassen, sollte jedoch unter vorsichtiger Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen